Interview: Wie klingt Wildnis?

17. Juni 2021Wie klingt Wildnis? Um diese Frage zu beantworten, begaben sich die Künstler Ursula und Frank Wendeberg auf eine Reise zu allen deutschen Nationalparks. Zwei Jahre lang fingen sie mit modernster Audio-Technik typische Naturgeräusche ein – vom lieblichen Bachgluckern über knabbernde Borkenkäfer bis hin zum Luchs auf Partnersuche. Daraus entstand das Projekt „Im Vielklang mit der Natur. Auf dem Klangteppich der Wildnis“. Mit „Viel-Klang-Konzerten“ und einem „Natur-Klang-Parcours“ bringen sie jetzt die Öffentlichkeit rein akustisch mit der Wildnis in Kontakt. Derzeit tourt das Paar mit seinem Konzert- und Umweltbildungsprogramm durch Deutschlands Schutzgebiete.

Wir interviewten die beiden, um mehr über das Projekt zu erfahren.

Filmplakat "Der wilde Wald"

Liebe Frau und lieber Herr Wendeberg, Sie haben die Wildnis auf Ihren Hör-Streifzügen rein akustisch belauscht. Wie kamen Sie denn auf diese Idee?

Ursula und Frank Wendeberg:

Wir sind wahnsinnig gern draußen! […] Und darüber hinaus sind wir ein großer Fan der Nationalpark Wildnis-Idee. Eine Sache war besonders wichtig: dass wir uns Menschen so wenig zuhören. Und zwar uns gegenseitig, aber auch der Natur. Und ich glaube, wenn wir etwas verändern wollen, dann ist dieses gegenseitige Zuhören so wichtig. Genau das fördern wir in unserem Projekt.

Welcher Nationalpark hat Sie am meisten beeindruckt? Wo fanden Sie zum Beispiel die größte akustische Vielfalt vor?

Eigentlich immer genau der, in dem wir gerade waren. […] Und natürlich klingen unsere Nationalparks in Deutschland sehr verschieden. […] Und von daher fand ich für mich ganz spannend, dass im Jasmund dieses Thema Wald und Meer zusammenkamen und wir dort beides gleichzeitig hören konnten.

Können Sie uns dann ein paar Sound-Superlative beschreiben, also zum Beispiel das ungewöhnlichste, das lauteste, das leiseste oder vielleicht auch das am schwierigsten einzufangende Geräusch?

Frank Wendeberg bringt den Ameisenlöwen im Nationalpark Sächsische Schweiz zum Hören © Ursula Wendeberg

Mit am schwierigsten aufzunehmen war der Borkenkäfer.

Ansonsten gab es einfach auch ganz überraschende Sounds, wie zum Beispiel Kaulquappen unter Wasser, wo wir gar nicht damit gerechnet hatten, dass wir sie beim Fressen belauschen können.

Und natürlich gab es ganz viele Aufnahmen von Vögeln, die einfach wunderschön waren. Aber auch von anderen Säugetieren wie dem Luchs. […] Das war für mich auch ein Highlight.

Und was ich auch ganz schön finde, sind die leisen Geräusche. Wenn zum Beispiel Wasser in Moos gluckert oder wenn Blätter einfach am Boden liegen und die Mikroorganismen diese zu Humus verarbeiten.

Können Sie denn anhand der Geräuschkulisse erkennen, ob eine Landschaft von Menschen beeinflusst ist? Also wie klingt zum Beispiel ein Naturwald – also ein Wald, in dem die Natur allein das Sagen hat – im Vergleich zu einem vom Menschen beeinflussten Wirtschaftswald?

Also ich würde es mir nicht zutrauen, obwohl wir jetzt drei Jahre lang so intensiv gelauscht haben. Weil ich glaube, man braucht sehr viel Artenkenntnis, damit man überhaupt weiß, was man hört. Und ich glaube, man braucht einen Vergleich. Ich muss wissen, wie klingt denn in Wildnis Wald […] ? Welche Vogelarten zum Beispiel höre ich da? Welche Insekten surren? Und ich muss einen Wirtschaftswald kennen, dass da vielleicht nur der Buntspecht hämmert und im Wildniswald, da habe ich sieben verschiedene Specht-Arten und das muss ich erst einmal registrieren können. Und generell ist es auch immer so, dass bei uns die Wildnis ja nicht akustisch komplett getrennt ist von den Menschen. […] Es ist ganz schwierig, wirklich nur Wildnis aufzunehmen.

Unsere Initiative setzt sich für große zusammenhängende Wildnis-Gebiete ein. Was ist denn für Sie ganz persönlich Wildnis? Und was bedeutet sie für Sie?

Frank Wendeberg nimmt Laubfroschgesang im Nationalpark Hainich auf © Ursula Wendeberg

Also das ist für mich wirklich ein ganz philosophischer Gedanke. Für mich ist Wildnis die Erlaubnis, nicht perfekt sein zu müssen. Und ganz viel Vertrauen ins Leben zu haben: dass „das Leben“ es schon irgendwie macht. Genauso, wie in der Natur immer irgendwo etwas wächst oder sich etwas entwickelt, auch wenn man nichts tut. Und das ist für mich Wildnis.

Viel Vertrauen haben und so sein dürfen, wie man ist. Ohne dieses Leistungsprinzip und effektiv sein müssen. Also ganz viel Beruhigung.

Und gleichzeitig aber auch viel Überraschung. Dass in der Wildnis auf einmal immer wieder Dinge passieren, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Und das macht es einfach sehr spannend. […] Es ist ein großer Spaß!

Wenn zum Beispiel ein blinder Mensch oder jemand, der noch nie zuvor in Deutschland war, Sie beide fragen würde: „Wie klingt Wildnis in Deutschland“? Was würden sie antworten und wohin würden Sie diese Person vielleicht mitnehmen?

Eine große Faszination hat für mich das Meer und seine Klänge. Auch Unterwasser-Töne sind für mich etwas ganz Tolles und Spannendes. Das ist für mich auch eine Form von Wildnis. Aber ich glaube, klassisch verbinden die meisten Menschen mit Wildnis eher unberührte Natur im Wald. Mit vielen Vogelstimmen, wo man vielleicht mal einen Hirsch rufen hört und wo auch mal ein anderes Säugetier vorbeikommt. Und ich würde die Leute tatsächlich ganz in den Osten schicken, weil da die wenigsten von Menschen gemachten Geräusche sind.

Was ist denn die zentrale Erfahrung, die Sie aus Ihrem Projekt mitnehmen – gerade in einer Welt, die so stark visuell geprägt ist?

Für mich ist es in der Tat völlig faszinierend, wie sehr auch Natur über Kontakt und Kommunikation funktioniert. Wie sehr Vögel zum Beispiel miteinander kommunizieren und dass ich anhand von Tierstimmen oder Naturphänomenen wie dem Rauschen des Windes schon ganz, ganz viel über die Landschaft lernen kann. […]

Dieses Wissen, was in der Natur passiert und wie unter Umständen jede Tierart mit einer anderen zusammenhängt – also wie das ökologische Miteinander funktioniert – das ist mir ganz eindrücklich hängengeblieben. Und dass eben auch in der Natur, wie bei uns Menschen, so viel über Kontakt und „in Beziehung gehen“ funktioniert. Das scheint ein Phänomen zu sein, das nicht nur uns Menschen geschenkt ist.

Für mich war auch spannend, dass es wirklich so schwierig ist, Klänge der Wildnis einzufangen, ohne dabei gleichzeitig ein menschliches Geräusch mit aufzunehmen. […] Das war für mich überraschend, wie viel der Mensch eigentlich „lärmt“ bei uns in Deutschland – selbst in der Wildnis.

Und zu guter Letzt: Vielleicht haben Sie ja einen Tipp für unsere Zuhörenden? Was raten Sie für den nächsten Spaziergang in der wilden Natur?

Ich würde vorab auf der Karte gucken, dass Straßen möglichst weit weg sind. Dass es wirklich ein Wald oder ein Gebiet ist, wo potenziell wenig Menschen in der Nähe sind. Und dann eine Decke mitnehmen, einen schönen Platz finden. Am besten im Schatten, Mückenspray nicht vergessen und dann Augen zu. Nicht denken, nicht reden. Und eine halbe Stunde am Stück ganz bewusst lauschen. […]

Und ich glaube, ein ganz zentrales Thema ist: Geduld zu haben. Naturbeobachtung braucht auch unsererseits die Geduld, sich darauf einzulassen. […] Denn es gibt das Phänomen, dass viele Klänge erst hörbar werden, wenn wir mal eine still gewesen sind – weil sich erst dann manche Tiere wieder bemerkbar machen oder manche Vögel wieder singen, weil sie sich dann unbeobachtet fühlen. […]

…und zutiefst dankbar sein, dass wir in einem so unglaublich friedlichen Land leben, in dem man einfach mitten im Wald allein sitzen kann. In vielen Wildnisgebieten auf der Welt könnte ich das ja alleine gar nicht tun. Wir haben es schon „dramatisch“ schön hier!

Ganz herzlichen Dank, liebe Frau und Herr Wendeberg für das sehr interessante und inspirierende Gespräch. Ihnen alles Gute!