4. Wildnis sichert biologische Vielfalt

4. Wildnis sichert biologische Vielfalt

Die biologische Vielfalt bewahren heißt, den Reichtum an Lebensräumen, Arten und Genen zu erhalten. Im Zentrum stehen die natürlichen und naturnahen Lebensräume mit den für sie jeweils typischen Arten und Lebensgemeinschaften. Ursprüngliche und weitestgehend unveränderte Wälder, Moore, Flüsse mit Auen, Küsten und Gebirge sind allerdings in Mitteleuropa sehr selten geworden. 

Wildnisgebiete tragen durch ihre großflächige Ausdehnung und dynamischen Prozesse zur Erhaltung der biologischen Vielfalt bei. Hier kann Evolution weitestgehend ungestört von direkten menschlichen Einflüssen ablaufen. Arten können sich an den Klimawandel anpassen und langfristig überlebensfähige Populationen entwickeln. Zudem sind in ausreichend großen Wildnisgebieten Lebensräume in allen Entwicklungsstadien und -phasen vorhanden – für viele Lebensgemeinschaften ist dies lebensnotwendig. In besonders großen Wildnisgebieten finden sogar störungsempfindliche Arten mit großen Raumansprüchen geeignete Rückzugsräume.

In Wildnisgebieten können Entwicklungszyklen vollständig ablaufen.

In Wildnisgebieten kann Natur sich frei entfalten. Das beinhaltet auch die spannende Ungewissheit darüber, wie Landschaften sich ohne menschliches Eingreifen entwickeln und welche Arten und Lebensgemeinschaften dann vorkommen. Wildnisgebiete sind wichtige Referenzflächen, mit deren Hilfe wir besser verstehen können, wie Natur sich an die vom Menschen stark veränderten Umweltverhältnisse (z. B. durch den Klimawandel) anpasst und weiter funktioniert. Von diesen Erkenntnissen können wir auch im Umgang mit wirtschaftlich genutzten Landschaften profitieren.

Können auf großen Flächen natürliche Prozesse ohne direkte menschliche Einflussnahme ablaufen, entstehen oft naturnahe Waldstrukturen und ein Neben-einander verschiedener Entwicklungsphasen. Davon profitieren viele Artengruppen. Der hohe Totholzanteil in der Alters- und Zerfallsphase von Wäldern wird Ursprung für neues Leben: als Nahrungsgrundlage und Nist- und Brutraum z. B. für Höhlenbrüter und -bewohner wie Spechte, Eulen und Fledermäuse und als Nährboden für ökologisch notwendige Zersetzer wie Pilze oder bestimmte Insektenarten. Auch Säugetiere und Vögel mit großen Raumansprüchen wie Luchs oder Weißrückenspecht können in Wildnisgebieten ausreichend Nahrung, Unterschlupf, Nist- und Rückzugsmöglichkeiten finden.

In Wildnisgebieten werden Entwicklungszyklen nicht durch Bewirtschaftung unterbrochen, sondern können vollständig ablaufen. Bäume dürfen hier alt werden. Besonders hochwüchsige Baumindividuen bieten einer Fülle an Kronenbewohnern wie Insekten, Pilzen, Flechten, aber auch Waldvögeln und baumbewohnenden Fledermäusen in der Vertikalen vielfältigen Lebensraum. Auch die zerfurchten Borkenstrukturen, die besonders bei alten Bäumen auftreten, eignen sich deutlich besser für eine Besiedlung durch Tiere, Pflanzen und Pilze: Sie bieten eine sehr viel größere Oberfläche als junge Stämme mit glatter Rinde.

Organismen, die sehr langsam wachsen, wie Flechten und anspruchsvolle Pilzarten, nutzt zudem der Umstand, dass in Wildnisgebieten das Habitat-angebot in der Regel langfristig stabiler als in bewirtschafteten Gebieten ist. Das gilt auch für die meisten „Urwald-Reliktarten“ z. B. aus der Gruppe der Käfer. Viele spezialisierte Waldarten sind auf ein beständiges Klima im Inneren des Waldes und permanentes Vorhandensein von stark dimensioniertem Alt- und Totholz angewiesen und fehlen deshalb in bewirtschafteten Wäldern.

Wildnis auf zwei Prozent der Landesfläche ist eine Bereicherung für die biologische Vielfalt.

Um die biologische Vielfalt eines Gebietes zu bewerten, können nicht nur die reinen Artenzahlen herangezogen werden. In relativ jungen Sukzessionswäldern kommen unter Umständen weniger Arten vor als in einer alten, bewirtschafteten Kulturlandschaft. Beides miteinander zu vergleichen ist jedoch aufgrund fehlender Kontinuität des Lebensraumes und der Vernetzung irreführend. Eine standorttypische Vielfalt stellt sich in Wildnisgebieten von selbst ein, sofern man die Natur lange genug sich selbst überlässt. Gleichwohl kann es sein, dass einzelne, auch gefährdete Tier-, Pflanzen- oder Pilzarten der ehemaligen Kulturlandschaft – mitunter auch nur zwischenzeitlich – in ihrer Anzahl zurückgehen oder verschwinden, wenn die zuvor praktizierten Pflegemaßnahmen bzw. Nutzungen entfallen. Der Erfolg von Naturschutz in der Kulturlandschaft basiert darauf, dass Pflegemaßnahmen dauerhaft aufrechterhalten werden. Selbstregulierende Systeme in Wildnisgebieten sind deshalb eine wichtige Ergänzung.

In Wildnisgebieten ist damit zu rechnen, dass die Artenausstattung schwankt. Das „Übereinkommen über die biologische Vielfalt“ (CBD) weist darauf hin: Ökosysteme werden als dynamische Komplexe aus Lebensgemeinschaften von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen beschrieben 1. Evolution kommt in Wildnisgebieten aus den Ungleichgewichten zustande, die durch natürliche Schwankungen – unter anderem bedingt durch Klimaveränderungen, inner- und zwischenartliche Konkurrenz – in diesen dynamischen Komplexen entstehen. Sie wird eben nicht überlagert durch menschliche Aktivitäten wie den Einsatz von Pestiziden, der zum Beispiel Resistenzen hervorrufen kann. Arten können hier also ihre Chance auf Evolution durch Anpassung wahrnehmen bzw. Wildnisgebiete nutzen, um den Folgen des Klimawandels auszuweichen.

Der klassische Naturschutz erhält bestimmte Zustände von Lebensräumen. Er ist unverzichtbar, um die mitteleuropäische Kulturlandschaft mit ihren vielfältigen Habitaten und der zugehörigen, angepassten Artenvielfalt zu bewahren. Darüber hinaus müssen aber in Deutschland Flächen verfügbar sein, auf denen ein Konzept greift, das Natur als dynamisches, sich selbstständig entwickelndes Geschehen begreift. Wird in Deutschland auf zwei Prozent der Landesfläche eine natürliche Entwicklung zugelassen, stellt das eine Bereicherung der biologischen Vielfalt dar.

„’Ecosystem’ means a dynamic complex of plant, animal and micro-organism communities and their non-living environment interacting as a functional unit.” CBD, Article 2. Use of Terms; www.cbd.int/convention/articles/default.shtml?a=cbd-02

Der hohe Totholzanteil in wilden Wäldern wird Ursprung für neues Leben: zum Beispiel für Höhlenbrüter wie den Grauspecht.
Foto: ©Daniel Rosengren

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