Unterwegs in der Wildnis: Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft
Wie erlebt man Wildnis?
8. Oktober 2025 / von Claudia Weigel
Den ersten Hinweis, dass ich mich dem Nationalpark nähere, spüre ich im Gesicht: Kleine Fliegen und andere Insekten klatschen bei der Anfahrt mit dem Fahrrad gegen meine Wangen und bleiben in meinen Augen hängen. Dabei bin ich doch für größere Wildtiere hier: Kraniche und Hirsche. Auch wenn ich diese finde, ist das größere Erlebnis doch die Erkenntnis, dass man Wildnis erleben statt beobachten sollte.
Exklusiver Zugang: Kraniche beobachten am Pramort
Nur 60 Nationalpark-Cards werden pro Tag vergeben. Nur mit dieser darf man auch nach 15 Uhr an den Ort im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, an dem die Kraniche abends zum Schlafen einfliegen – an manchen Tagen bis zu 10.000 Vögel. Pramort heißt diese wundersame Stelle, die in einer der drei Kernzonen des Nationalparks liegt: also den Bereichen, in denen sich die Natur ungesteuert vom Menschen entwickeln darf.
Um dorthin zu gelangen, heißt es in die Pedale treten oder mindestens acht Kilometer laufen. Denn nur so kommt man zu den zwei reedgedeckten Beobachtungshütten, die den Beobachtenden Windschutz bieten und zudem dafür sorgen, dass man die Vögel beim Einfliegen nicht stört, da sie einen von oben nicht sehen können. Einmal angekommen, brauche ich Geduld: Die Kraniche lassen auf sich warten.
Der Nationalpark ist kein Zoo
„Der Nationalpark ist kein Zoo“, überhöre ich die anwesende Rangerin sagen. Man wisse nie genau, wie viele Kraniche kommen und wann genau. Dann erzählt sie einem Besucher noch, dass sie mal gefragt wurde, ob sie hier im Nationalpark GENAUSO viele Schwäne hätte wie in Wismar. Zwei mehr, hätte sie geantwortet. Ich muss schmunzeln und warte weiter. Immer kälter wird mir, die Sonne sinkt tiefer und tiefer.
Ein bisschen wie im Zoo ist es dann aber doch. Statt dem Krächzen der Kraniche höre ich aus verschiedenen Richtungen wehmutig Hirsche röhren. Mit meinem kleinen Fernglas sehe ich in wenigen hundert Metern Entfernung ein ganzes Rudel, dass friedlich vor sich hin grast. Auf der anderen Seite im Bodden steht noch ein einzelner Hirsch. Dann ist – noch näher als die Hirsche – plötzlich eine Wildsau mit Jungtieren beim Fressen zu beobachten. Wenig später – direkt neben den abgestellten Fahrrädern der Besuchenden – tollen Marderhunde durch das halbhohe Gras und laben sich an Wildbirnen. Seeadler werden von Menschen mit besseren Ferngläsern auch noch in der Ferne gesichtet. Nur die Kraniche lassen weiter auf sich warten.
Die Jagd nach dem besten Foto
Die reedgedeckte Hütte auf Stelzen lässt bei mir Safariklischees aufkommen. Das mag auch daran liegen, dass ich umzingelt bin von Menschen mit Megaobjektiven. Zeigt sich ein Tier, klickt es überall. Fast alle hier sind auf der Jagd nach dem besten Foto – und ich kann nicht mithalten mit meiner kleinen Systemkamera. Mir ist inzwischen so kalt, dass es mich immer wieder schüttelt. Nur vereinzelt ziehen Ketten an Kranichen heran. Kommen sie heute überhaupt auf so spektakuläre Weise eingeflogen, wie es beschrieben wird? Die Rangerin ordnet schon ein, dass manchmal auch nur ganz wenige kommen – das wisse man nie so genau.
Von der Beobachterin zum Teil in der Natur
Ich gebe mich der Kälte geschlagen und beginne den Rückweg zu meinem Fahrrad, das ich am Wegeingang zur Hohen Düne geparkt habe. Auf diesen wenigen hundert Metern rückt die Natur an mich heran. Das Abendrot hängt über mir, rechts raschelt das Schilf, ein Hirsch röhrt erschreckend nah, vor mir verschwindet etwas Wildschweinartiges im Gebüsch. Links waren eben noch die Marderhunde. Mein Gehirn schlägt um: Sind die eigentlich gefährlich? Und was macht so ein brünftiger Hirsch, wenn ich ihm im Weg stehe? Raus aus meinem Beobachterposten in der geschützten Stelzenhütte fühle ich mich plötzlich beklommen. Dieses kleine Fleckchen wilde Erde gehört Hirsch, Wildschwein, Marderhund, Kranich und all den anderen Tieren, die ich heute nicht gesehen habe. Ich bin hier nur zu Gast.
Schnell steige ich aufs Fahrrad und radele ganz allein im Halbdunkel zurück Richtung Zivilisation. Nicht ohne doch noch mehr Kraniche zu sehen und zu hören, die direkt über mich hinweg Richtung Pramort ziehen. Für den nächsten Tag nehme ich mir vor, weniger Natur zu beobachten, sondern sie mehr zu erleben. Nicht auf der Jagd nach einer bestimmten Tierart oder einem Landschaftshighlight zu sein, sondern die Wildnis – ganz ohne Kamera und Fernglas dazwischen – auf mich wirken zu lassen, so wie sie ist. Leichter gesagt als getan.
Die Wildnis rund um den Darßer Ort
Wieder mit dem Rad geht es zum Leuchtturm am Darßer Ort – eine weitere Kernzone. Auch dieser Ort gilt als ideal, um den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft mit seinem besonderen Landschaftsmosaik aus Ostsee, Dünen, Strandseen, Wald und Röhrichten sowie der Tierwelt vom Watvogel bis Rothirsch zu erleben. Ich komme mit dem Ziel, mich einfach für eine halbe Stunde ganz allein hinzusetzen, um die Wildnis auf diese ruhige und langsame Art zu erleben.
Doch das Glück habe ich heute nicht. An diesem schönen Herbsttag bin ich weder im Darßer Wald noch auf dem Rundweg am Darßer Ort jemals länger als eine Minute allein. Grüppchen aus Pärchen, Familien, einzelne Leute mit Hunden ziehen kontinuierlich an mir vorbei. Den Weg zu verlassen ist auch keine Option. Es herrscht Wegegebot im Nationalpark und die Ranger haben mit Leuten, die dieses nicht einhalten, schon genug zu tun. Das zeigt diese ARD-Dokumentation. Auch ich sehe immer wieder, wie die Leute einfach über Absperrungen klettern, um einen Vogel zu beobachten oder sich für den Toilettengang in die Büsche schlagen.
Das Dilemma in der Wildnis in Deutschland
Es ist ein Dilemma: „Man liebt nur, was man kennt, und man schützt nur, was man liebt“, soll Konrad Lorenz gesagt haben. Die famose Landschaft und Tierwelt im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, der dieses Jahr 35-jähriges Bestehen feiert, ziehen viele Besuchende an. Wildnis wird in Deutschland gern zur Erholung besucht und jeder möchte weg von all den anderen Besuchenden, um das Erlebnis Wildnis exklusiv für sich zu haben: Hobby-Fotograf, professionelle Naturschützerin, extra weite Anfahrt, lokaler Anwohnender… jeder hat einen anderen Grund, um die Wege zu verlassen, um exklusive Wildnis erleben zu wollen – meist zum Nachteil der Tiere und Pflanzen im Nationalpark.
Wilde Momente trotz Wegegebot
Ungestörte Natur finde ich im Darßer Ort bei meinem Spaziergang also nicht, aber mich beruhigt der Gedanke, dass es in den Kernzonen weit abseits der Wege zumindest ungesteuerte Natur gibt. Für das Naturerlebnis muss ich nicht die Wege verlassen, ich muss nur den Modus ändern, mit dem ich in der Natur unterwegs bin: Bewegung raus, Mund zu, Kamera runter, alle Sinne nutzen, wahrnehmen wollen. Dann gibt es auch in dieser vielbesuchten Gegend kleine wilde und exklusive – da eigene – Momente.
Eine Portion Wildnis in Ihr E-Mail-Postfach?
Abonnieren Sie den Newsletter der Initiative Wildnis in Deutschland, um mehr über Wildnis in Deutschland zu erfahren. Sie interessieren sich für Wildnis und Natürlichen Klimaschutz oder möchten mehr über Wildnisförderung erfahren? Abonnieren Sie den Newsletter der KlimaWildnisZentrale.