Erlebnis am Sperrbereich
Mit dem Rad entlang der Wildnisgebiete Wanninchen Nord und Süd
5. Mai 2025 von Claudia Weigel
Wie kann ein Wildnisgebiet erlebt werden, das nicht einmal betreten werden darf? Indem man entlangfährt! Auf gut ausgebauten Radwegen geht es vom Bahnhof Lübbenau entlang Wanninchen Nord und Wanninchen Süd zum Bahnhof Calau. Bei dieser Tour sieht, hört und riecht man die Wildnis.
Sielmanns Naturlandschaft Wanninchen: zwei Wildnisgebiete
Aus der Großstadthektik Berlins kommend, könnte der Kontrast nicht stärker sein: Keine zehn Menschen begegnen mir auf der rund 50 km langen Radtour. In Lübbenau brüllt mir der Laubbläser noch hinterher, wenige Minuten später wird es stetig ruhiger. Nur die Überquerung der Autobahn und einer größeren Landstraße stören noch mal: radfahrend wird hier spürbar, was naturschutzfachlich als „Zerschneidung“ bezeichnet wird: es ist laut, unangenehm, hinderlich. Die Landstraße ist auch der Grund, warum Sielmanns Naturlandschaft Wanninchen in zwei Wildnisgebiete geteilt wird: Wanninchen Nord und Wanninchen Süd.
Vom braunkohlebelasteten Tagebau zur unberührten Naturlandschaft
Beide Gebiete liegen auf dem ehemaligen Tagebaugelände Schlabendorf. Ab 1960 wurde hier industriell Braunkohle abgebaut und alles, was die Kohle bedeckte, musste weichen: Wälder, Äcker, Teiche, Moore und ganze Dörfer. „Gott hat die Lausitz geschaffen, der Teufel hat die Kohle vergraben“, so fasst ein altes sorbisches Sprichwort das Schicksal der Region zusammen. 1989 endete der Abbau, engagierte ehrenamtliche Naturschützer*innen sahen die Chance zur Renaturierung des Gebiets. Im Jahr 2000 erwarb die Heinz Sielmann Stiftung die ersten Hektar. Heute sind die zwei Wildnisgebiete Wanninchen Nord und Süd gemeinsam mehr als 3000 Hektar groß – das entspricht ungefähr der Fläche Borkums, der größten ostfriesischen Insel.
Wegweiser zur Wildnis
Weniger als 40 Jahre sind seit dem Ende des Kohleabbaus vergangen. Am Lichtenauer See entlang fühle ich mich wie sonst auch im tiefsten Brandenburg: sandiger Waldweg, Kiefern, ein zitronengelber Falter kreuzt meinen Weg, Vögel singen. Würde nicht in regelmäßigen Abständen das Schild „Sperrbereich. Betreten verboten. Lebensgefahr“ am Wegrand stehen, könnte die Geschichte der Region regelrecht vergessen werden. Und so stellen diese „Sperrbereich“-Schilder fast eine Art Wegweiser zur Wildnis dar: hinter diesen liegt das Wildnisgebiet Wanninchen Nord. Schnell erkennbar durch die „Unordnung“. Links des Radwegs eine akkurate Kiefernplantage, rechts die seit Jahren unberührte Natur: umgefallene Bäume, dichte Büsche und dahinter schimmert der nach dem Tagebau durch Flutung entstandene Lichtenauer See hindurch.
Die Absperrung des Gebiets ist übrigens der bergbaurechtlichen Sicherung geschuldet: Im Gebiet kann es immer noch aufgrund fehlender Verdichtung des Bodens zu Rutschungen und Grundbrüchen kommen.
Spuren des Tagebaus in der Wildnis
Der Tagebau hat noch weitere Spuren hinterlassen, die das renaturierte Gebiet besonders machen. Wenige Kilometer weiter, am Schlabendorfer See, lässt mich der Ausblick an den Mars denken. Der ganze Uferbereich ist rot gefärbt, auch die kleinen Wellen spülen rot schimmernd an Land. Durch den Tagebau wurden eisenhaltige Gesteinsschichten freigelegt, die heute als Eisenocker noch sichtbar sind. Der See hingegen strahlt im Kontrast gemeinsam mit dem Himmel leuchtend blau. Den ganzen See entlang sind auf der anderen Uferseite immer wieder Aufschüttungen sichtbar, die bizarr anmuten. Diese Dünenlandschaft wird nach und nach vom Wald zurückerobert. Ihre Rücken sind von jungen Bäumen überzogen, nah am Ufer des Sees stehen immer wieder vereinzelte junge Kiefern und Birken, deren Grün im Frühjahr besonders hell leuchtet.
Sielmanns Natur-Erlebniszentrum Wanninchen
Etwa auf der Hälfte der Radstrecke liegt das Natur-Erlebniszentrum Wanninchen. Hier ist ein tiefer Einblick in die Wildnis Wanninchens möglich: Einerseits durch eigenes Beobachten vom Vogelbeobachtungsturm auf dem großen Außengelände, andererseits durch eine prägnante Ausstellung im Gebäude. Diese informiert anschaulich über die Bergbauvergangenheit der Region, über Heinz Sielmann und darüber, wie die Natur zurückkehren konnte. Die Bedeutung des heutigen Wildnisgebiets wird hier deutlich: wichtiger Rastplatz für Kraniche aus ganz Europa, Heimat seltener Arten wie dem Strand-Knöterich, der Sandschrecke oder dem Wiedehopf.
Und jetzt, raus in die Natur
Nach dem Ausstellungsbesuch folge ich gern der Aufforderung, die den Besuchenden beim Verlassen des Geländes mitgegeben wird: „Und jetzt, raus in die Natur!“. Weiter geht es den See entlang, vorbei am Gedenkstein für den weggebaggerten Ort Wanninchen und ein kurzes Stück hindurch durch das Wildnisgebiets Wanninchen Süd. Die Luft riecht frühlingsfrisch, die Vögel singen besonders laut. Kurz probiere ich die App BirdNet aus, mit der sich Vögel anhand ihres Gesangs bestimmen lassen. Nachtigall, Pirol und Fitis bestimmt mir die App mit großer Sicherheit.
Totholz im Werden
Nur wenige Minuten später zwingt mich ein Aussichtspunkt zu einem erneuten Halt. Zu beeindruckend ist das Bild auf die hell leuchtenden weißen Dünen, die jungen Pionierbäume im Frühlingsgrün, der strahlend blaue Himmel und der See. Plötzlich knackt es laut. Kurz erschrecke ich mich, da mir bis jetzt kaum ein Mensch begegnet ist. Dann wird mir klar: Das war wohl Totholz im Werden.
Fast wehmütig geht es die die letzten Kilometer weg von der Wildnis in Richtung des Ortes Fürstlich Drehna, vorbei an Äckern und Kiefernwäldern, kleinen Ansiedlungen und Windrädern hinein in die Kleinstadt Calau – der Heimat des Kalauers. Der Regionalzug bringt mich zurück in die Großstadt Berlin. Es bleibt das Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben, entlang des Sperrbereichs.
Weiterführende Informationen:
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